Die Gradierung der Symptome von C.M. Boger

 

IHA 46th 1925 p157, CW 93

 

(ins Deutsche übertragen von Jürgen Hofäcker)

 

Die hauptsächliche Aufgabe beim Erstellen eines Repertoriums besteht im Verfassen eines funktionstüchtigen Index der Materia Medica. Diese Aufgabe hat aufgrund ihrer Größe schon lange die Fähigkeiten eines Einzelnen überschritten. Sogar die führenden Werke hinken schnell der Entwicklung hinterher. So betreiben wir heute eine Form der Analyse (der Materia Medica), die die hervorstechendsten und brauchbarsten Merkmale in Rubriken zusammenfaßt, die wiederum in einem leicht handzuhabenden und anpassungsfähigen Schema angeordnet sind.

 

Krankheit kann sich in allen möglichen Kombinationen von Symptomen darstellen; trotz alledem ist die extreme Vielfalt des Ausdrucks von Erkrankungen die Ausnahme, ansonsten müßte das Problem praktisch unlösbar bleiben. Den größten Teil der Symptome kann man den Gruppen Symptome einer Krankheitsgattung, Symptome einer Organerkrankung und individuelle Symptome zuordnen. Die ersten zwei bleiben ziemlich konstant, zeigen sich jedoch von Zeit zu Zeit sehr aktiv, wodurch sie die homöopathische Arzneimittelwahl erschweren, und zu dem Notbehelf der Verordnung auf organbezogenen Symptomen, pathologischen Symptomen oder klinischen Diagnosen führen, was schlussendlich eine verderbliche Sache ist.

 

Die Gruppe der individuellen Symptome ist weitaus wichtiger, da sie in der Regel zu dem eigentlichen Menschen, seinen Stimmungen, seinen Zielen und seinen eigentümlichen Reaktionen führen. Da sie einzeln, in kleinen Gruppen oder in unbestimmten Intervallen auftreten sind sie leicht zu übersehen, schwerer in den Zusammenhang einzuordnen und schwerer zu interpretieren. Das verführt zu palliativen Verordnungen und erschwert eine echte Heilung. Fälle mit sehr vielen Symptomen sind wiederum äußerst schwer zu entwirren, insbesondere wenn darüber mit einer zu lebhaften Vorstellungskraft gebrütet wird.

 

Am Ende der Analyse jedes einzelnen Falles steht die Zuordnung der Symptome zu den Gruppen individuellen Symptome beziehungsweise Krankheitserscheinungen, um dann das Heilmittel zu wählen, das sich durch beide Gruppen zieht, wobei das größere Gewicht auf die individuellen Symptome gelegt wird. Diese Methode ist für das Erstellen eines Repertoriums wie auch für die Fallaufnahme und das Verordnen von Arzneimitteln gültig. Die übergroßen Rubriken in unseren Repertorien sind deswegen weniger dazu dienlich eine Repertorisation durchzuführen, bei der zuletzt das eigentliche Mittel übrigbleibt. Sie dienen mehr zur gelegentlichen Bestätigung einer Arzneimittelwahl.

 

Wenn wir alle Arzneien, außer denen mit den 2 höchsten Graden aus den großen, allgemeinen Rubriken eliminieren, und alle bestätigten Symptome in den kleineren Rubriken hinzufügen, fördern wir die größtmögliche Anzahl an Charakteristika zu Tage. Jeder Fall, sogar wenn er derselben Krankheitsgattung zugehört, bringt eine leicht unterschiedliche Anordnung der Symptome zutage, insbesondere in seiner letzten und wesentlichsten Entwicklung. Diese letzte Entwicklung ist in der Regel nichts anderes als ein Zutagetreten eines neuen Gliedes der Kette von individuellen Symptomen im Lebenslauf des Patienten. Um die Sache in dieser Art und Weise betrachten zu können, bedarf es der Aufzeichnung der gesamten Krankheitsgeschichte, die dann jedoch den therapeutischen Schlüssel für fast jede Erkrankung über einen langen Zeitraum liefert.

 

Die Graduierung der Symptome basiert im wesentlichen auf ihrer Entdeckung und der Häufigkeit der Bestätigung, die für jedes einzelne Symptom erfolgt. Trotz alledem ist die Wirkungssphäre auch von außerordentlicher Wichtigkeit und ist nicht ohne Gefahr aus unseren Überlegungen zu verbannen, da sie unsere Arzneimittelwahl bestätigen. Sich nur auf die numerische Überlegenheit einer Arznei zu verlassen ist in der Tat irreführend, dennoch impliziert jeder Gebrauch der Repertorien dieses Verhalten zu einem gewissen Grade. Dies wird aber durch den relativen Rang der individuellen Symptome stark in den Hintergrund gedrängt.

Theoretisch kann dasselbe Symptom in einem Fall den höchsten Rang einnehmen, und im nächsten den Niedrigsten. Dies ist gänzlich von den allgemeinen Zügen des Falles abhängig, die durch die begleitenden Beschwerden bestimmt werden. Von diesem Blickwinkel aus betrachtet ist die Graduierung der Symptome, wie wir sie in den Repertorien vorfinden, unbefriedigend und von untergeordneter Wichtigkeit und trotz alledem ist sie sehr wertvoll. Der relative Wert eines Symptoms wird fast ausschließlich durch den Kontext im jeweiligem Fall bestimmt, somit ist dieser Wert von Fall zu Fall unterschiedlich. Seine schlussendliche Stellung im Repertorium basiert ausschließlich auf der Häufigkeit seiner klinischen Bestätigung. Wenn ich die Sache richtig verstehe, ist das originale Prüfungssymptom nur ein Hinweiß auf das, zu was es sich in Zukunft entwickeln kann. Dies zeigt sich dann durch weitergehende Prüfung.

 

Ein Beispiel: in den Arzneimittelprüfungen haben einige Arzneimittel Unverträglichkeit von Bekleidung am Hals hervorgerufen, aber Herings Lachesis blieb es zu zeigen, daß sie alle anderen diesbezüglich in den Schatten stellt, und sie wirklich nur ein paar hinterherzockelnde Anhänger hat. Bei Unverträglichkeit von Hitze lässt dieses Lokalsymptom Lachesis gegenüber Glonoinum hervorstechen; wenn aber Empfindlichkeit  von Kälte vorherrscht ist Sepia an der Spitze.

Die Erfahrung führt uns zu der Schlussfolgerung, daß das Handeln des Patienten, und das, was er selber über sich sagt von höchster Wichtigkeit sind, und nicht einfach beiseite geschoben werden kann. Genauso befördern Arzneisubstanzen bezüglich ihrer generellen Wirkungssphäre diesen oder jenen Zustand in den Vordergrund, und wenn wir das Gegenstück beim Patienten wiederfinden, haben wir das Similimum gefunden, vorausgesetzt das Arzneimittel enthält ebenso auch die Charakteristika des Falls. Wir denken zum Beispiel nicht an Phosphoricum acidum bei Erregbarkeit, genauso wenig wie wir nicht an Coffea bei einem lethargischen Patienten denken, es sei denn, daß die individuellen Symptome nach diesem Arzneimittel zeigen, was aber sehr unwahrscheinlich ist. Die Beschaffenheit der allgemeinen Reaktionslage beeinflußt in großem Maße den Wert der Symptome, egal ob sie aus der Prüfung stammen oder klinische Symptome darstellen.

 

Bei einer neuen Prüfung bringt jeder Prüfer nur einen Teil des zu erwartenden Bildes hervor, und das Ganze ist nur richtig zu erfassen indem wir alle Teile als eine in sich verbundene Einheit wahrnehmen. Das Gleiche beobachten wir bei Erkrankungen, wo die Anordnung der Symptome auch niemals exakt die Gleiche ist; sie unterscheidet sich von Patient zu Patient.

 

Das Wechselspiel der Wirkungen fördert immer eine gewisse Grundtendenz oder eine allgemeine Reaktionslage ans Tageslicht. Die Natur stellt hier ihre Forderungen in ihrer ältesten und anpassungsfähigsten Sprache dar. Das Ganze kann aber nur unter Einbeziehung des Kontexts von Grund auf verstanden werden.

Der gesamte Trend der Ausbildung ging mehr und mehr in Richtung einer statischen Betrachtungsweiße, bis zuerst Madame Curie und folgend Einstein den grundsätzlichen Irrtum, der dieser Betrachtungsweiße zugrunde liegt, aufzeigten. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang ihre Aufmerksamkeit auf Hahnemann, seiner Philosophie und seiner Materia Medica lenken, der diese statische Betrachtungsweiße auf die Beobachtung von gewissen Naturgesetzen, die die Grundlage einer erfolgreichen Praxis darstellen, reduzierte. Diese Naturgesetze sind wiederum von ihrer Natur aus dynamisch.